Kapitel 3 - Die Stimme der Stille
Kapitel 3: Die Stimme der Stille
Jupitermond Ganymed Port Thialy — 7. August 2280
Ezekiel
Ezekiel Marrow starrt auf den Holobildschirm, als
könnte er dem flimmernden Glühen von Zahlen und Zeichen jene Antworten
entlocken, die fürchtet – und zugleich verzweifelt sucht.
Verrat.
Terror.
Rebellion.
Es darf nicht sein, was nicht sein kann. Und doch ...
Er streckt die Hand aus, berührt ein Diagramm. Licht
schmiegt sich an seine Fingerspitzen wie der scheue Kuss einer verlorenen
Jugendliebe. Die Graphen zerfließen – weichen einem Holo-Video.
Winston SpacePort. Einer der drei Raumhäfen von
Ganymed. Der schmucklose, der verrufene. Nirgendwo in Port Thialy liegen Licht
und Schatten enger beieinander als im Heimathafen der Stickstoffflieger.
Marrow lehnt sich zurück. Die hohe Lehne des
Ohrenbackensessels umfängt ihn, doch sie bietet keinen Trost. Er muss das Video
nicht erneut ansehen. Er kennt jede Sekunde. Hat sie analysiert, seziert,
obduziert – ein Dutzend Mal. Hunderte Male.
Doch das Hologramm verrät ihm nichts.
Nur Feuer. Ein brüllendes, gleißendes Meer aus Plasmaflammen,
das einen der Stickstoffgleiter verschlingt und auf zwei weitere überspringt.
Drei Schiffe. Drei Wracks.
Ein herber Verlust für die Ganymed-Kolonie.
„Verdammt …“ murmelt er, und seine Hand zuckt fahrig
durch die Luft, als wolle er eine lästige Fliege vertreiben. Das flackernde
Inferno auf dem Bildschirm friert in einem letzten Aufbäumen ein und das
Leuchten der Flammen in der Dunkelheit gerinnt plötzlich zu stummer Kälte. Der
Holoschirm ist eine der wenigen Lichtquellen in dem gewaltigen Büro – einer von
dreien, um genau zu sein. Marrow bevorzugt die Dunkelheit. Sie zwingt zur
Klarheit. Lässt keinen Raum für Ablenkung. So war es schon auf der Erde
gewesen, bevor sie ihn ins Exil verbannt hatten, in den verlassensten Winkel
des Sonnensystems.
Die Explosion auf dem Winston SpacePort ist kein
Einzelfall, sondern nur das jüngste Glied in einer Kette von Pannen, die sich
wie ein blutiger Faden durch das Herz der Ganymed-Kolonie zieht. Einzeln
betrachtet bloß tragische Zufälle. Eine undichte Ignisleitung, die zwei der
acht Aufzugsgondeln des gewaltigen SpaceElevators zerstört. Ein versagender
Servomotor an der Hafenbrücke, der den Schiffsverkehr im Thialy-Sund lahmlegt.
Ein klemmendes Floodgate in der Mineanlage Echo 7 – und jetzt dieser verfluchte
Gleiter.
Beim ersten Mal ist es Pech. Beim zweiten Mal –
Schicksal.
Aber beim dritten Mal?
Sabotage?
Ezekiel Marrow hasst diesen Gedanken. Aber noch mehr
hasst er die Fragen, die sich daraus ergeben. Weil es dieselben sind, die Rear
Admiral Imar Corben ihm stellen wird, sobald er durch die Türen seines Büros
tritt – auf der Suche nach Antworten, die ihm der Gouverneur des
Ganymed-Sektors gefälligst zu liefern hat.
Sie hatten dieses Gespräch schon geführt. Nach dem
Unglück am SpaceElevator. Nach der Überflutung von Echo 7, als die Floodgates
in den Valkyrie Mountains versagt hatten. 418 Working Drones verloren dabei ihr
Leben. Die Förderung in Ganymeds größtem Ignis-Komplex brach um 12 Prozent ein.
Eine Katastrophe mit Auswirkungen auf die gesamte
interplanetare Raumfahrt.
Die Geduld des Rear Admirals dürfte inzwischen mehr
als erschöpft sein.
Marrow erhebt sich abrupt, die Bewegung fast zu hastig
für sein sonst so kontrolliertes Auftreten. Er dreht sich zu einer der beiden
weiteren Lichtquellen im weiten Halbdunkel des Raums.
Eine Kugel aus Licht schwebt wenige Schritte von
seinem Schreibtisch entfernt an einer silbernen Kette. Pendelt sacht.
Hypnotisch. Sinnlich. Ihr sanftes Leuchten tanzt auf den Schatten der Umgebung
wie ein mystisches Irrlicht, streicht über eine feminine Silhouette, die in der
Dunkelheit harrt – nicht ganz real, nicht ganz Illusion.
Ein flüchtiger Beobachter könnte glauben, dass die
Kette irgendwo oben in der Schwärze endet. Eine optische Täuschung. Licht,
goldgeäderter Marmor, die spiegelnde Kühle des Steins – zusammen formen sie
etwas, das fast lebendig wirkt.
Doch Marrow weiß es besser.
Sein Blick folgt den goldenen Linien, die sich wie
tätowierte Adern über die geschwungenen Formen ziehen. Er beobachtet das
ruhige, gleichmäßige Heben und Senken des Brustkorbs – und atmet tief ein.
KD-4671-xf ist keine Statue.
Keine Illusion.
Sie ist ein Mensch. Oder war es einmal. Eine junge
Frau, irgendwo auf der Erde zu Fall gebracht, von einem System, das längst
verlernt hat, den Einzelnen zu sehen. Irgendein gelangweilter Richter, ein
Schnellverfahren, zu viel verlorenes Karma – und das Urteil: lebenslanges Straflager
auf Ganymed.
Er streckt die Hand aus, legt die Finger sachte an
ihre Taille. Die Wärme überrascht ihn beinahe. Sanft wie ein Atemzug, der seine
Fingerspitzen streift. Normalerweise bedeutete ein solcher Schuldspruch nicht
nur die Versiegelung in einem Drone Suit – einem persönlichen Alptraum aus
Stahl, Servoaktuatoren, Schweiß und schweigendem Schrecken – sondern auch
Zwangsarbeit in den Ignisminen. Die wenigsten überleben fünf Jahre.
Aber manchmal gelingt es ihm, jemanden zu retten.
Zumindest vor den Minen.
Wie KD-4671-xf.
Ezekiel Marrow kennt nicht einmal ihren echten Namen.
Er wollte ihn nie erfahren. Absichtlich. Vielleicht zu seinem eigenen Schutz.
Oder ihrem. Namen sind auf Ganymed nicht mehr wichtig. Nicht für Häftlinge. Was
zählt, ist, dass sie lebt. Dass Hoffnung möglich bleibt – für sie, für die
wenigen anderen, die es in seine Obhut geschafft haben.
Das Schlupfloch nennt sich Servant for personal
utility. Ein bürokratischer Euphemismus für das, was sie wirklich sind: die
Auserwählten unter den Verdammten. Für ihn. Für seine Offiziere. Denn gutes
Personal ist schwer zu bekommen in einer Strafkolonie am Ende des Sonnensystems.
Kaum jemand betrachtet einen Posten auf Ganymed als Karrieresprung.
Außer denen, die nichts mehr zu verlieren haben.
Zumindest redet er sich ein, dass er sie gerettet hat.
KD-4671-xf lebt, atmet, bewegt sich – aber sie ist
noch immer gefangen. Ihr Gefängnis ist kein finsterer Zellenblock, sondern ein hautenger
Suit: schwarz, lautlos, unentrinnbar. Ihr Kopf steckt in einem Helm aus
undurchdringlicher Dunkelheit, die selbst das leiseste Geräusch verschluckt.
Keine Stimme dringt daraus hervor. Nur ein Nicken. Oder ein Kopfschütteln.
Stumm. Schwer. Und manchmal bewegt sich dabei ihr violetter Pferdeschwanz –
durch eine schmale Öffnung im Helm geschoben – wie ein Echo der Frau, die noch
irgendwo in diesem Gefängnis schmort.
Er könnte sie fragen. Ob sie sich gerettet fühlt. Ob
das hier besser ist als die Minen. Ob sie ihn hasst.
Aber er tut es nicht. Hat es nie getan.
Vielleicht will er es nicht wissen. Vielleicht kennt
er die Antwort längst.
So wie er weiß, welche Fragen Rear Admiral Imar Corben
ihm gleich stellen wird. Fragen, die nach Wahrheit klingen – aber nach Schuld schmecken.
Er tritt einen Schritt zurück, wirft KD-4671-xf einen
letzten Blick zu. Der Suit liegt wie flüssiger Nachtschatten auf ihrer Haut,
betont jede Rundung mit der Präzision eines Künstlers, der sein Werk nicht nur
erschafft, sondern vergöttert. Goldene Linien ziehen sich wie tätowierte
Ornamente über das ultradichte Polymer – nanoverstärkt, geschmeidig,
undurchdringlich. Es ist mehr als ein Gefängnis. Es ist ein Versprechen. Eine
Fassade aus Macht und Kontrolle.
Servant Drones sind keine bloßen Werkzeuge. Sie sind
Choreographien aus Fleisch und Maschine – lebendige Skulpturen, geschaffen, um
Unterwerfung mit Anmut zu servieren. Weil niemand vom rostigen Blech eier
Working Drone bedient werden möchte. Weil selbst die größte Barbarei noch
feines Porzellan verlangt.
Früher, vor Ganymed, hätte er nur die Ästhetik
gesehen. Heute jedoch …
„Gouverneur Marrow …“ Die Stimme der Palast-AI gleitet
wie warmer Nebel durch den Raum. Melodisch. Wachsam.
„Ja, Solance?“ fragt er ruhig.
„Rear Admiral Corben ist soeben eingetroffen,
Gouverneur Marrow.“
Er nickt, richtet sich auf, das Rückgrat plötzlich
stahlhart. „Danke, Solance. Licht an. Und bitte führe den Admiral herein.“
„Wie Sie wünschen, Gouverneur.“
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