Kapitel 1 - Schmugglerorbit
Cape Neweham, Alaska — 26.
August 2280
Torley
Das Donnern der Raketentriebwerke verhallte nur zögerlich zwischen den
zerklüfteten Hügeln von Baluka Hill. Noch immer liegt Hitze in der Luft – wie
ein Echo, ein Flüstern aus Feuer, Asche und verbranntem Metall, das den
Aufstieg der Lawgiver Mark IV begleitet.
Selbst hier oben, jenseits der Mauern und Startrampen von Cape Neweham –
oder Cape Jail, wie es alle nennen, die mehr als eine
Nacht in Hörweite des Correction Centers Cape Neweham Nr. D-001 verbracht haben
– spürt Torley Legrande das glühende Prickeln auf seiner Haut. Der letzte Hauch
ihres Abschieds.
Echte, richtige Raumfähren starten nur noch selten von der Oberfläche des
Planten, seit die gigantischen Space Elevators die Verbindung zu den
Orbit-Gates in der Umlaufbahn der Erde übernehmen. Aber für bestimmte
Transporte braucht es noch immer die alten Biester: Regierungsprojekte,
Gefahrguttransporte...
...und Gefangene.
Vor allem Gefangene.
Niemand will Häftlinge in Handschellen neben einer Schulklasse auf dem Weg
zum Mond in den Orbit hieven. So was beendet politische Karrieren. Deshalb sind
die Orbit-Gates für alle gesperrt, deren Karmastufe nicht mindestens blau ist.
Und Häftlinge haben kein Karma mehr. Nicht einen Lux. Ihr Seelenlicht bleibt
erloschen, bis sie ihre Strafe verbüßt haben. Oder bis sie tot sind.
„Sie ist weg“, sagt Torley und blickt der schlanken Silbernadel nach, die
langsam im Abendhimmel über Alaska verschwindet. Das Inferno des Starts
vibriert noch immer in seinen Knochen. Und in seiner Seele. Er hebt die Flasche
an die Lippen. Billiger Fusel, den die Hillbillys im örtlichen Walmart als
Whisky verscherbeln. Iron Brandy, nur echt mit den Handschellen auf dem
Etikett.
Zum Totlachen …
… echt.
Wahrscheinlich ist das Zeug nur als Souvenir gedacht. Um es zu Hause
irgendwo in eine Ecke zu stellen. Als Beweis, dass man da gewesen ist. Dass man
Cape Jail gesehen hat. Dem Grauen der Gesetzlosigkeit in die geifernden Augen
geblickt hat. Er nimmt einen tiefen
Schluck. Verzieht keine Miene.
Trinken sollte man den Iron Brandy nicht.
Auf keinen Fall.
Zumindest nicht, wenn man nicht in näherer Zukunft erblinden will. Er nimmt
einen weiteren Schluck. Trotzdem ist das Zeug gut genug, um den ätzenden
Schmerz zu dämpfen, der sich durch seine Eigenweide frisst.
„Das weißt du doch gar nicht“, sagt Trisch. Ihre Stimme klingt dunkel und
traurig. Ein wenig so, wie er sich fühlt. Nur in der weiblichen Variante.
Er sieht sie nicht an. Blickt weiter dem Shuttle nach, das längst von der
Dunkelheit verschluckt wurde. „Doch. Ich kann es fühlen.“
Trisch und Shyla. Die beiden Schwestern könnten unterschiedlicher kaum sein.
Trisch, die Wilde, die Ungezähmte, mit Augen, die genauso oft lachen wie ihr
Mund. Sie studiert Jura in New-Washington. Neuntes Semester, oder so.
Irgendwann hatte er den Überblick verloren. Zuerst der Bachelor, dann die
Law-School und jetzt steht sie kurz vor dem Bar-Exam.
Was für ein bescheuerter Name.
Er hätte Trisch fragen können, wie lange sie noch braucht. Und für den Hauch
einer Sekunde liegt ihm die Frage auch tatsächlich auf der Zunge, kitzelt an
seinen Lippen wie der verzweifelte Versuch, ein wenig Menschlichkeit in einem
unmenschlichen Moment zurückzugewinnen. Aber eigentlich interessiert es ihn
nicht. Nicht heute Nacht. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass er
Trisch nicht besonders mag. Keine Ahnung warum. Die Chemie passt einfach nicht.
So sehr er sich zu Shyla hingezogen fühlt, so oft fliegen die Fetzen, wenn er
sich in Trischs Nähe aufhält. Thanksgiving letztes Jahr, Shylas Geburtstag oder
der absolute Tiefpunkt, das Weihnachtsfest, an dem Trisch versucht hat, ihn mit
der Lichterkette umzubringen. Völlig unbeabsichtigt natürlich. Klar. Die Liste
ist lang und es grenzt an ein Wunder, dass er bis heute überlebt hat.
Torley seufzt. Was soll´s. Vielleicht hatte er in einem früheren Leben ihre
Katze überfahren oder irgendein bescheuerter Gott dieses Universums, hatte sie
beide als entgegengesetzte Pole eine Beziehungsmagneten auserkoren.
Shyla ist anders. Ganz anders.
Und das ist der echte Treppenwitz des Universums. Weil Trisch jetzt alles
ist, was ihm noch von der großen vielleicht Liebe seines Lebens geblieben ist.
Er nimmt noch einen Schluck. Keine Ahnung, wie viele Flaschen es inzwischen
sind. Er hatte schon lange aufgehört zu zählen. Sie waren seit einer Woche
hier. Hatten ein Zelt auf einem der Hügel oberhalb des Correction Centers Cape
Neweham Nr. D-001 aufgeschlagen und starrten seither hilflos auf die schmucklose
Ansammlung aus Baracken und grauen Betongebäuden hinunter.
Cape Jail ist das größte Straflager der Erde – und doch nur ein
Zwischenstopp für jene, die nach Ganymed deportiert werden. Dorthin, wo das
United Commonwealth versucht, eine neue Heimat für die Menschheit zu errichten.
Auf den Knochen von Sträflingen.
Und jetzt ist Shyla eine von ihnen. Weil er es vermasselt hat.
Er nimmt noch einen Schluck.
„Glaubst du wirklich, das hätte sie gewollt?“ fragt Trisch.
„Was?“ knurrt Torley.
„Das hier“, antwortet sie und deutet mit einem Nicken auf die Flasche. „Wann
hast du eigentlich das letzte Mal etwas Vernünftiges gegessen?“
Er ignoriert ihren Blick.
„... oder geduscht?“ fügt Trisch nach kurzem Zögern hinzu.
„Echt jetzt?“ Er presst die Lippen zusammen. „Ich brauche eine verdammte
Idee, wie ich sie da rausholen kann – keinen beschissene ein-Mann-Abstinenzbewegung.“
„Es gibt nur einen Weg. Das weißt du.“ Trischs Stimme wird fester. „Der
einzige Weg, wie wir ihr helfen können, ist, wenn ich mein Studium abschließe
und jeden einzelnen Fall wieder aufrolle, in dem sie Lux verloren hat. Bis der
Scheiß, den ihr zwei euch eingebrockt habt, sie nicht mehr nach Ganymed
bringt.“
„Und wie lange soll das dauern? Zehn Jahre? Bis dahin ist sie tot, Trisch“, faucht
Torley.
„Hast du eine bessere Idee?“ Jetzt steht sie vor ihm, die Arme verschränkt,
und blickt auf ihn herab. „Hast du am Boden einer deiner Flaschen irgendeine
göttliche Eingebung gefunden, die ich übersehen habe?“
„Nein“, muss er kleinlaut zugeben.
Trisch nickt schwach. „Es ist nicht nur dein Schmerz, weißt du. Sie ist meine
Schwester. Du hast kein Monopol darauf, sie zu vermissen! Ich will sie genauso
zurück wie du.“
Torleys Lippen beben.
„Vielleicht würde sie jetzt nicht in irgendeiner verfluchten Zelle
verrotten, wenn...“
„Vorsicht!“ unterbricht ihn Trisch. „Bevor du etwas sagst, das wir beide
bereuen.“
Er atmet tief durch.
... und nickt.
„Weiß sie es eigentlich inzwischen?“ fragt er schließlich.
Sie hebt eine Augenbraue.
„Na, das mit deinem Studium.“ Er zuckt mit den Schultern.
Trischs Mundwinkel verziehen sich zu einem verlegenen Lächeln. „Du meinst,
dass ich Jura studiere und nicht Kunst?“
Torley nickt, versucht, noch einen letzten Blick auf den verblassenden Feuerschweif
des Shuttles zu erhaschen.
„Nein“, sagt sie. „Shy will mir einen Traum ermöglichen, aus dem ich längst
aufgewacht bin. Meine Schwester braucht keine Künstlerin. Sie braucht die beste
Anwältin, die sie kriegen kann.“
Er schüttelt den Kopf. Wenn es nicht so traurig wäre, wäre es fast komisch. Shyla
opfert ihre Seele, um Trischs Studium zu finanzieren. Und Trisch opfert ihren
Traum, um Shyla zu retten.
Was für eine beschissene Welt.
Aber das sagt er nicht laut, sondern leert den letzten Rest der Flasche mit
einem Zug. Er will sie nicht ansehen. So unterschiedlich die beiden Schwestern
auch sind, so sehr hat ihn in den letzten Tagen etwas in Trischs Augen an Shyla
erinnert. Dieses Funkeln in den wenigen seltenen Momenten, in denen sie gelacht
hat.
Aber dann tut er es doch. Hebt den Kopf. Öffnet den Mund ...
... und stockt.
„Dein Karma ...“ stammelt er. „Seit wann bist du violett?“
***
Drei Wochen früher ***
Orbitalfrachter Bethany — 5.
August 2280
Shyla
„Hier ist die UCSS Toledo. Verlangsamen Sie
Flug und Rotation. Bereiten Sie sich auf eine Inspektion vor.“
Die Stimme, die aus dem Komsystem dringt, ist so eisig
wie der Raum hinter der gepanzerten Pilotscheibe der Bethany. Und
unverkennbar genervt.
Mein Finger schwebt über dem „Senden“-Knopf. Ein
tiefer Atemzug. Dann drücke ich ihn entschlossen nach unten und versuche,
halbwegs schuldbewusst zu klingen: „Tut mir leid... wirklich. Aber wir schieben
250.000 Registertonnen. Die bremst man nicht mit einem kurzen Stoßgebet ...“
Technisch gesehen stimmt das. Physik ist eine Bitch.
Die Bethany ist kein schnittiger Asteroidenjäger und auch keine schicke
Yacht für die stickreichen Bastarde, die nicht wissen wohin mit ihrem scheiß
Geld. Sie ist ein fliegender Truck, oder besser ein alter Frachter, der von
Rost, Spucke und viel Liebe zusammengehalten wird. Eigentlich besteht sie nur
aus jeder Menge Schub und ein bisschen Bremskraft mit ein paar Containerklammern
und widerspenstiger Elektronik dazwischen. Vor allem Letzteres nennt Torley gerne
die Seele der Bethany. Meistens nach mindestens einer Flasche
Hochprozentigem. Aber er muss den Scheiß ja auch nicht fliegen.
„Reduzieren Sie doch einfach die Rotation,“ seufzt die
Stimme aus dem Kom. „Das hilft doch nichts. Es macht die Sache nur schlimmer.“
Ich beiße mir auf die Unterlippe und antworte nicht,
während die Bethany in nächste Umlaufbahn um den Mond einschwenkt. Enger
und kürzer diesmal. Wir nähern uns unverkennbar Lunar Landing und der Autopilot
folgt unbeirrt dem einprogrammierten Bremsmanöver.
Der Funkoffizier der Toledo hat gut reden. Er
sitzt ja auch nicht auf vierzig Paletten geschmuggeltem Duhain-Whisky und
betet, dass die Scanner des Kriegsschiffs gute Laune haben.
Drei Umläufe noch. Vielleicht vier, wenn ich mir
irgendeinen fucking Scheiß einfallen lasse. Virenalarm, blockierte Schleuse,
Strahlungsleck. Oder einfach die gute alte Pest. Aber selbst die wird uns nicht
retten, weil sie seit der Erfindung von Antibiotika und Raumanzügen einiges von
ihrem Schrecken verloren hat. Und damit bin ich wieder bei den Lancern der
Raummarine, die sich Container für Container durch das Frachtrig der Bethany
arbeiten.
„Wir sind sowas von am Arsch...“ murmele ich leise.
Torley sitzt hinter mir, beugt sich tief über die Multi-Konsole,
während seine Finger über das Holo-Keyboard fliegen als hätte er den Kaffee heute
Morgen mit Red Bull aufgebrüht. Er sagt nichts. Muss er auch nicht. Ich weiß,
was er tut.
Er versucht, uns irgendwie rauszuhauen. Aber dafür
bräuchte es ein Wunder.
„Reduzieren Sie ihre Rotation und bereiten Sie sich
auf eine Inspektion vor!“ Diesmal ist die Stimme aus dem Kom noch kälter als
flüssiges Vakuum. Ich kann beinahe den Blick des Commanders spüren, der hinter
dem Funkoffizier steht.
„Fuck you!“ knurre ich. „Einen Scheiß werde ich tun!“
Die langsame Rotation um die Längsachse beschert uns
ein Drittel Erdschwerkraft. Genug, damit der Kaffee in der Tasse bleibt. Und
genug, damit uns die Raummarine in Ruhe lässt.
Normalerweise …
Technisch gesehen ist das Andocken an ein rotierendes
Schiff kein Problem. Aber die Protokolle der Raummarine stufen ein derartiges
Zweikörpermanöver als potenziell gefährlich ein. Nur in Ausnahmefällen erlaubt.
Und Routineinspektionen heißen Routineinspektionen, weil sie keine Ausnahme
sind. Daher nutzen die meisten Frachter ihre Schiffsrotation wie ein
"Bitte nicht stören"-Schild. Die meisten Schiffe der Raummarine
respektieren das.
Die Zeiten sind hart.
Seit sich Erde und Mars gegenseitig mit Exportzöllen traktieren,
ist der Handel um dreißig Prozent eingebrochen.
Die Großen haben sich angepasst. Die Lunar Trading
Company, das New York Stock House — sie haben einfach ihre Frachterrigs
verlängert, laden mehr Container pro Flug, beschäftigen weniger Personal.
Aber für die kleinen Dockratten wie mich und Torley
ist jeder Flug zu einem Kampf ums Überleben geworden. Die Landegebühren, der
Treibstoff, selbst die scheiß Atemluft. Alles kostet ein kleines Vermögen. Ohne
die gelegentliche Beförderung von grenzlegaler Ware würde die gute alte Bethany
schon lange in irgendeinem Raumdock verrotten.
Und …
… jeder macht es. Alle kleinen Frachtflieger. Die Raummarine
weiß das.
Ihnen ist aber auch bewusst, dass wir bald wieder
gebraucht werden. Sobald der Zollkrieg endet, brauchen Erde und Mars unsere Frachtkapazitäten
wieder. Deshalb schaut die Flotte normalerweise weg.
Es gibt kein offizielles Memo dazu. Kein Gesetz. Nur beschissenen
Ermessensspielraum. Und auf der Toledo sitzt offenbar jemand, der am
nächsten Stern auf seinem verfickten Kragenspiegel arbeitet.
„Ich hab's gleich!“ ruft Torley triumphierend. „Das
finden die nie!“
Ich nicke. Ich weiß, was er versucht. Er überschreibt
das Frachtmanifest. Schlampige Unterlagen sind bei kleinen Frachtern eher die Regel
als die Ausnahme. Und im Moment verteilt er virtuell die Ladung von mindestens
zehn Containern auf das klaffende Loch in den Frachtpapieren von Container LH-4518-BFG-2Y,
der natürlich nicht wirklich leer ist. Es ist nicht das erste Mal, dass Torley
ein bisschen elektronische Magie wirken lässt. Auf dem Papier sieht das auch
immer gut aus und hat bisher bei den meisten Prüfung standgehalten.
Nun ja …
… bei einigen.
Aber er kann das. Das weiß ich.
Trotzdem, sobald Marines anfangen, die Container zu
öffnen, wird der Schwindel auffliegen. Und ich habe keinen Zweifel, dass der
Kommandant der Toledo genau das vorhat.
Bis er die 5000 Flaschen achtzehnjährigen
Duhain-Whiskys findet.
Ich stemme mich aus dem Pilotensitz. „Komm mit!“
Torley blickt irritiert von der Holotastatur auf, aber
ich bin schon durch die Schleuse und im Korridor.
„Shyla?“ ruft er mir verwirrt hinterher.
„Los jetzt,“ wiederhole ich. „Du musst raus. In den
Raumanzug.“
„Was?“ Torley rempelt gegen etwas und flucht. „Jetzt
warte doch mal!“
Ich passiere eines der großen Bullaugen der Bethany,
sehe mein Spiegelbild. Müde Augen mit dunklen Rändern vor einem blonden
Pferdeschwanz, der seit Tagen keine Dusche mehr gesehen hat.
Fuck!
Was ist eigentlich die Strafe für wiederholtes Schmuggeln?
Ich verdränge den Gedanken, schwinge mich in die
Nohlan-Röhre, die die Decks der Bethany entlang der Längsachse des
Schiffs verbindet, und stoße mich vom Geländer ab. Genau in der Mitte ist die
Gravitation am schwächsten. Ich gleite fast schwerelos Richtung Luftschleuse
auf Deck 2.
„Shyla!“ Torleys Kopf taucht über mir auf. „Was hast
du vor?“
„Hab ich doch gesagt,“ antworte ich knapp. „Du musst
raus.“
„Aber...“ Dann folgt er mir. „Du willst, dass ich
rausgehe … und den Container abkopple!“
Ich atme tief durch. Das ist verdammt nah an der
Wahrheit. Und plötzlich bereue ich, dass ich nie etwas mit ihm angefangen habe.
Torley ist toll. Er hat dieses Funkeln in den Augen, das mir jedes Mal ein
Kribbeln durch den Bauch jagt. Und ich kann stundenlang über seine Witze
lachen.
Yin und Yang, hat er uns mal traurig genannt. Immer
nebeneinander. Nie vereint.
Weil ich mich nie getraut habe. Nie getraut, jemanden
zu küssen, mit dem ich die meiste Zeit des Jahres in einer Blechdose zwischen
Erde und Mond hin und her gondle.
Später, hab ich mir immer gesagt ...
Aber es wird kein Später geben. Die Toledo hat
uns am Arsch.
Ich hämmere auf den roten Knopf ein, als wollte ich
das verdammte Ding totschlagen. Der Spind vor der Luftschleuse öffnet sich. Ich
reiße einen Raumanzug heraus.
„Das könnte klappen. Nein, warte … das ist genial!“
Torley ist inzwischen aus dem Rohr geklettert. „Wenn ich den Container über dem
Mare Tranquillitatis abwerfe, findet den nie jemand!“
Ich nicke schwach.
Er hat recht. Das Mare Tranquillitatis ist eine
Müllhalde. Ursprünglich sollte dort der zweite Frachthafen für die Marsflüge
entstehen. Die Tranquility Base. Aber dann haben sich Erde und Mars zum ersten
Mal zerstritten. Über Kosten, Personal, Standards. Und natürlich über die
Fahrtrichtung. Mars hat Linksverkehr. Erde Rechtsverkehr. Und der Mond?
Besser, man begegnet niemandem auf einem der Lunar
Highways.
Irgendwann wurde der Plan aufgegeben. Seither ist das
Mare Tranquillitatis eine Geisterstadt unter einer Atmosphärenkuppel, die nie fertiggestellt
wurde. Ein Container würde in den Ruinen kaum auffallen. Die Raummarine müsste
ewig suchen.
Normalerweise ...
Aber entweder habe ich in einem früheren Leben der
Mutter des Kapitäns der Toledo lustige Tiernamen gegeben oder er hofft
wirklich auf eine Beförderung. So oder so, ich bezweifle, dass er uns so
einfach davonkommen lässt. Die Marines der Toledo werden das Mare
Tranquillitatis durchforsten, bis sie jede verdammte Flasche gefunden haben.
Torley grinst breit. Hoffnung. Genau das funkelt in
seinen Augen. Ich habe ihm Hoffnung gegeben. Mein Magen macht einen Salto samt
eingesprungenem Rittberger, während er sich aus dem Overall schält. Dann helfe
ich ihm in den Raumanzug. Er redet. Über die Toledo. Dass ein Schwarzes
Loch die Idioten verschlucken soll. Über die Raummarine und seinen
Lieblingswitz. Wie man Marine buchstabiert.
Muscles are
required; intelligence not essential.
Die Worte rauschen an mir vorbei wie ein Wasserfall.
Ich nicke nur. Lächle. Meine Finger kennen die Handgriffe, während sich das
Material des Anzugs an seinen Körper schmiegt. Ich arbeite auf Autopilot.
Unterdrücke jeden Gedanken.
„Wie lange noch bis Mare Tranquillitatis?“ Torleys
Stimme klingt fast euphorisch, obwohl ich sie kaum wahrnehme.
Ich tippe auf das Display an seinem Arm. Sauerstoff:
100%. Energie: 89%. Wird das reichen? Verdammt. Ich hab's vermasselt.
Treibstoff für die Steuerdüsen: 85%.
Wann wurde der Anzug zuletzt benutzt? Wann wurden
Energie und Treibstoff verbraucht?
Keine Ahnung verdammt. Und vor allem, warum habe ich
den Scheiß nicht nachgefüllt.
Aber jetzt ist es zu spät. Jetzt muss es reichen. Es
gibt keine Alternative. Keine, in der wir nicht beide in einem Drone Suit auf
Ganymede schmoren.
„Shy!“ Diesmal ist Torleys Stimme scharf wie eine
Rasierklinge.
Ich zucke zusammen.
„Wir schaffen das! Keine Panik. Das klappt,“ sagt er
und sieht mich mit diesen stahlgrauen Augen an. Ich schnappe nach Luft. „Dein
Plan ist gut. Und ich pack das. Alles wird gut.“
Mein Mund ist trocken wie Mumienstaub. Ich bringe
keinen Ton heraus. Lasse mechanisch den linken Handschuh einrasten. Er lächelt.
Ich öffne den Mund. Kein Wort kommt über meine Lippen.
„Also, wie lange noch? Wann sind wir über dem Mare
Tranquillitatis?“ fragt er erneut.
Ich lecke mir über die Lippen ...
„Vierzig Minuten ... vielleicht fünfundvierzig ...“
stammle ich.
Und plötzlich sind meine Lippen auf seinen. Ich spüre
seine Wärme. Schmecke seine Angst. Seine Verzweiflung. Seine trotzige Hoffnung.
Ich schlinge die Arme um ihn, ziehe ihn an mich, presse mich gegen ihn. Für
einen wunderbaren, flüchtigen Moment scheint die Zeit stillzustehen.
Nur wir. Kein Whiskey. Keine Toledo. Kein
rachsüchtiges Kriegsschiff.
Doch irgendwann lösen wir uns. Sehen einander an.
Torley grinst wie ein kleiner Junge, der gerade die
Fensterscheibe seines ungeliebten Nachbarn eingeschlagen hat.
„Was hab´ ich getan, um das zu verdienen?“ fragt er und
klingt verdächtig wie eine Katze, die die Sahne gestohlen hat.
„Später,“ antworte ich knapp und setze ihm den Helm
auf.
„Versprochen?“ Torleys Grinsen wird breiter.
„Versprochen!“ Ich nicke, kämpfe gegen die Tränen an
und senke das Visier, schiebe ihn in die Luftschleuse. Er hebt die Hand, hebt
den Daumen. Ich schenke ihm ein Lächeln. So eins, wie es sich jeder Mann von
einer Frau wünscht.
Meine Finger tasten nach dem Kontrollfeld der
Schleuse, und die Luke schließt sich.
Er sagt noch etwas. Ich sehe, dass sich seine Lippen
bewegen, aber ich höre nichts. Der Anzug ist schalldicht. Und ich trage kein
Kom.
Der nächste Knopf. Die Pumpen starten, saugen die Luft
lärmend aus der kleinen Kammer.
Ich sehe durch das ovale Fenster, sehe ihn. Aber ich blicke
ihn nicht an. Ich schaue durch ihn hindurch, an ihm vorbei durch das winzige
Bullauge in der Außentür der Luftschleuse und warte bis das graue Antlitz des
Mondes langsam die lichtlose Schwärze des Alls verdrängt.
Bei 0,3 bar breche ich die Dekompression ab. Öffne die
äußere Luke.
Der Luftstoß reißt ihn hinaus. Lässt ihn Richtung
Oberfläche trudeln. Sanft. Wie ein Blatt im Wind. Die Steuerungsdüsen des
Anzugs sind zu schwach, um ihn zurück zur Bethany zu bringen, aber sie
reichen, um ihm eine halbwegs weiche Landung auf dem Mond zu ermöglichen.
Dieser Arsch von der Toledo wird uns kriegen.
Zumindest einen von uns.
„Es tut mir leid ...“ flüstere ich heiser.
Er wird es schaffen. Er wird die Lunar-Landing Station
erreichen. Es wird knapp, aber die Luft in den Tanks des Raumanzugs sollte
reichen.
Zumindest hoffe ich das.
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